Ein Steinzeitskelett als Streitfall vor Gericht: Anthropologen wollen die Gebeine erforschen, Indianer sorgen sich um den Frieden der Toten
Von Urs Willmann
Fotos: AP
In seinem Nebenamt als Kriminalanthropologe erhielt der Archäologe James Chatters am 28. Juli 1996 Besuch vom Leichenbeschauer. Der Gast stellte ihm einen Eimer auf den Schreibtisch. Prüfend zog Chatters eine Hirnschale aus dem Kübel. Deren schmale Form überraschte ihn. Ebenso die markante Stirn, der gut entwickelte obere Augenhöhlenrand und der Nasenrücken. Dann fischte er einen Oberkiefer heraus. Ein abstehendes Knochenstück bestätigte: Die Nase des Toten musste riesig gewesen sein. Auch die Eckzahngrube passte ins Bild, ein Charakteristikum europäischer Schädel. Chatters dachte spontan an einen Siedler im 19. Jahrhundert und verkündete seinen ersten, noch vagen Befund: "Weiße Person, Kaukasier."
Doch beim zweiten Blick war es vorbei mit der Ruhe um den Verstorbenen namens "Kennewick Man". Er wurde rasch zu einem der berühmtesten Amerikaner. Vorbei war es auch mit der Ruhe von James Chatters und mit der Stille im Städtchen Kennewick im US-Bundesstaat Washington. Sogar der politische Friede mit den Indianern in der Gegend ging vor die Hunde.
Es war die Zahnreihe, die Chatters stutzen ließ. Waren die flach gekauten Beißer nicht charakteristisch für amerikanische Ureinwohner? Noch ahnte Chatters nicht, dass die Überreste dieses Toten, dessen Schädel zwei betrunkene Jugendliche am Morgen aus dem Columbia River bei Kennewick gezerrt hatten, einen jahrelangen Streit vom Zaun brechen würden. Je mehr die Gebeine von sich verrieten, desto weniger passten die Befunde zur bisherigen Geschichte von der Erstbesiedlung Amerikas - und noch weniger zur zeitgenössischen Politik. Die Radiokarbondatierung ergab ein Alter von 9460 Jahren. Die Rekonstruktion aber zeigte einen Kopf, der aussah wie Jean-Luc Picard, Commander des Raumschiffs Enterprise. Letzlich einigten sich die Experten darauf, dass die Spur nach Asien führt, zu den seefahrenden Ainu in Japan und den Polynesiern im Südpazifik - nicht aber zu den nach der letzten Eiszeit über die Beringstraße eingewanderten Urindianern. Was also hatte eine solche Kreatur im Ältestenclub amerikanischer Skelette zu suchen?
Dass der Kennewick Man schon zu Lebzeiten kein geruhsames Dasein fristete, bewiesen gebrochene und wieder verheilte Rippen, eine Schädelfraktur, ein kaputter Ellbogen und die Speerspitze, die in seinem rechten Hüftknochen steckt. Es passt zu seiner abenteuerlichen Biografie, dass sich über 9000 Jahre später Wissenschaftler und Vertreter der Urbevölkerung um seine Knochen zanken - James Chatters rollt diesen Streit minutiös in seinem Buch Ancient Encounters auf. Letzten Herbst entschied die Regierung, die Gebeine gehörten den Indianern. Ein Verdikt, das acht Forscher umgehend anfochten: Dafür sei Kennewick Man der falsche Mann. Sie klagten gegen die Regierung.
In der vergangenen Woche gastierten die Streithähne im Bezirksgericht von Portland, Oregon. In einem zweitägigen Hearing wollte Richter John Jelderks klären, ob in Zukunft an den brisanten Knochen weiter geforscht werden kann - oder ob die Indianer ihren vermeintlichen Urahnen beerdigen dürfen. Noch steht der Schiedsspruch aus. Vermutlich wird am Ende sogar der U.S. Supreme Court entscheiden müssen. So lange bleibt der Eiszeitler im Burke-Museum von Seattle unter Verschluss - respektive was bis heute zusammengetragen ist. Ein Karton voller Gebeine, darunter der für die Größenbestimmung nicht unwichtige Oberschenkelknochen, wurde drei Jahre lang vermisst. Der Archäologe Chatters wurde vom FBI des Diebstahls verdächtigt. Letzten Donnerstag tauchten die Knochen plötzlich wieder auf - in der Schublade des Sheriffs von Benton County.
Dass der Tote zum Gerichtsfall wurde, dafür sorgten fünf Stämme unter Führung der Umatilla. Sie pochten auf ein Gesetz von 1990, den native American graves protection and repatriation act (Nagpra). Es schreibt vor, dass Skelette indianischen Ursprungs an die Ureinwohner gehen, zwecks Bestattung. Er verpflichtet die US-Regierung zur Rückgabe aller auf Bundesgebiet gemachten Knochenfunde - sofern eine "kulturelle Anbindung" nachgewiesen werden kann. Obwohl die jetzt in der Gegend des Fundorts lebenden Umatilla dort vor 9000 Jahren nachweislich noch nicht waren, beanspruchen sie die Gebeine. Und bisher waren noch alle alten Knochen als indianisch durchgegangen.
Schaukampf um indianische Privilegien
Eine ganze Reihe von Skeletten aber passt nach Ansicht von Anthropologen nicht in die indianische Ahnenreihe, neben dem Kennewick Man auch der Spirit Cave Man aus Nevada. Ihnen droht das gleiche Schicksal wie der 7800 Jahre alten Pelican Rapids Woman, die vor zwei Jahren von den Sioux wieder begraben wurde, obwohl auch da keine kulturelle Anbindung nachzuweisen war. Erst ein Tabubruch bewirkte, dass inzwischen nicht mehr ganz selbstverständlich ist, alle präkolumbischen Gebeine den heutigen Ureinwohnern zu überlassen. Jahrzehntelang hatten die Lehrbücher die Clovis-Theorie gepredigt, wonach über die Beringstraße vor 13 300 Jahren die ersten Menschen in die Neue Welt gelangt seien. Doch nicht nur Gebeine, auch DNA-Analysen, linguistische Vergleiche und exaktere Datierungen vermitteln ein neues Bild von der Besiedlung Amerikas. Die Pioniere kamen schon viel früher, aus allen Himmelsrichtungen.
Der Richter in Portland forderte deshalb hartnäckig Beweise. Unmissverständlich gab er zu verstehen, dass ihm Geografie und mündliche Überlieferung als Nachweis einer kulturellen Zugehörigkeit nicht reichen. "Ich habe Schwierigkeiten, die Verbindung zu sehen", sagte Jelderks und ließ durchblicken, er könne den Argumenten der Wissenschaftler folgen.
Würde die Justiz anders entscheiden, so hätte dies verheerende Folgen. Mit dem Kennewick Man könnten die Indianer buchstäblich die Hoffnung der Forscher begraben, auch andere geschichtsträchtige Gebeine unter die Lupe zu nehmen. Der schwammige Nagpra-Artikel würde eine Wirkung entfalten, die ihm ursprünglich nicht zugedacht war. Als Präsident George Bush senior die Vorlage 1990 unterzeichnete, ging es aus politischer Korrektheit darum, den systematischen Grabraub durch weiße Knochensammler im 19. Jahrhundert wieder gutzumachen. Heute aber geraten Sonderregelungen wie das Recht, in den Reservaten Kasinos zu betreiben, zunehmend unter Beschuss. Die Washington Post vermutet, die Stämme verstünden den Kampf um Kennewick Man als "Teil einer größeren Herausforderung der Indianerrechte".
Extrawürste für Ureinwohner sind schlechter zu rechtfertigen, wenn die Einzigartigkeit dahin ist. Douglas Owsley von der Smithsonian-Institution in Washington ist überzeugt, dass sich in der Steinzeit "Gruppen auf dem Kontinent rumgetrieben haben, die nicht bis in die Gegenwart überlebt haben. Kennewick Man könnte einer von ihnen gewesen sein." Brisant wird dieser Einwurf, wenn Wissenschaftler Nachforschungen darüber anstellen, wer Kennewick Man und seine Brüder ausgelöscht hat.