Mitte der 1870er Jahre glichen die Reservationen mehr oder minder Gefängnissen und wurden von Agenten verwaltet, die autokratisch über ihre kleinen Reiche herrschten. Da die Indianer dem Blick der Öffentlichkeit entzogen waren, konnte man sie brutal mißhandeln. Gelder für Unterkünfte wurden gestohlen, Nahrungsrationen waren zu knapp oder verdorben, Menschen wurden ohne medizinische Behandlung dem Tod überlassen; andere wurden gewaltsam von ihren Familien getrennt, um ohne Verhandlung für tatsächlich begangene oder ihnen unterschobene Verbrechen bestraft zu werden, oft wurden einzelne Indianer ermordet.
Die Nationen waren einem System korrupter Regierungsbeamter und privater Spekulanten ausgeliefert, das gemeinhin als "Indian Ring" bekannt war und das die ohnmächtigen Stämme aufgrund des allgemeinen Desinteresses hintergehen konnte. Sie waren auf den Reservationen gefangen, lebten ohne Freiheit, sich wie früher selbst zu versorgen, und die Möglichkeit, ihren Beschwerden Gehör zu verschaffen. Allmählich wurdem im Osten die Machenschaften des korrupten "Indian Ring" bekannt. Doch die Lösung der Reformer bestand darin, eine Veränderung zu fordern - nicht die der diktatorischen, diebischen Beamten im Indian Service, sondern eine der Indianer selbst. Die Traditionen, der Glaube und die Lebensweise der Stämme wurden als rückständig, unmoralisch und falsch verdammt. Wenn man den Indianern helfen und sie retten wollte, so glaubten die Reformer, mußten zuerst ihre Stammeskulturen und ihre indianische Art vernichtet werden; dann könnten die indianischen Völker neu entstehen und würden gezwungen sein, sich der amerikanischen Kultur anzupassen.
Damit begann eine Phase bewußter kultureller Auslöschung. 1887 brachte eine überraschende Allianz von Reformern aus dem Osten und landgierigen Männern aus dem Westen den Dawes General Allotment Act durch den Kongreß, unter dem gemeinsames Stammesland in den Reservationen in kleine Grundstücke aufgeteilt wurde, um sie einzelnen Familien zu überschreiben.
Die Absicht der Reformer bastand darin, die Struktur der Stämme und Häuptlinge zu vernichten und die Indianer zu unabhängigen Landbesitzern und Bauern zu machen. Die Grundstücke, die nicht Indianern zugeteilt wurden, wurden an Weiße verkauft. Die Rechnung ging auf: 1887 besaßen die Indianernationen in den Vereinigten Staaten rund 560.000 km² Land; 1934, als der Allotment Act aufgehoben wurde, waren 365.000 davon in weißen Besitz übergegangen; außerdem war ein großer Teil des restlichen Landes an Weiße verpachtet.
Traditionelle indianische Führer betrachteten den Allotment Act auch als Angriff auf ihre Stammeshoheit und Kultur und erhoben Einspruch. "Das ist bloß ein weiterer Trick der Weißen", erklärte Hollow Horn Bear, ein Häuptling der Sicangu-Sioux. Aber die Proteste der Indianer wurden von Staatsbeamten wie Thomas Jefferson Morgan, dem Indianerbeauftragten in Präsident Benjamin Harrisons Regierung, ignoriert; 1889 brachte er seine "hoffnungsvolle Überzeugung", was getan werden müsse, zum Ausdruck:
Die Indianer müssen sich in "die Lebensweise der Weißen" einfügen - friedlich, wenn sie es wollen, gewaltsam, wenn es sein muß. Sie müssen ihre Lebensweise unserer Zivilisation anpassen. Vielleicht ist diese Zivilisation nicht die bestmögliche, aber sie ist die beste, die die Indianer bekommen können. Sie können ihr nicht entkommen und müssen sie entweder übernehmen oder von ihr zerstört werden. Die Stammesbeziehungen müssen aufgelöst, der Sozialismus vernichtet und durch die Familie und die Autonomie des Individuums ersetzt werden.Die Durchsetzung des Allotment Act war von Betrug, Hinterlist und Diebstahl begleitet. Korrupte Agenten erklärten kleine Kinder, Hunde und Pferde zu Indianern mit Landansprüchen und verkauften diese Grundstücke dann an Weiße. Weiße Familien adoptierten indianische Waisenkinder, um sich deren Grundstücke anzueignen. Gleichzeitig traf die Regierung Maßnahmen, um die Indianer ihres indianischen Wesens zu berauben. Rituale und Zeremonien wie etwa der Sonnentanz wurden verboten, sogar das Sprechen der Stammessprachen wurden untersagt. Medizinmänner und Schamanen, die ihre Tätigkeit weiterhin ausübten, zogen den Zorn christlicher Missionare auf sich, und viele wurden fern von ihrem Volk ins Gefängnis gesteckt oder in das Indian Territory gebracht.
Äußerlich mochten sich die Schüler ihrer neuen Umgebung vielleicht anpassen, doch innerlich litten sie Qualen. Ihre Kleider wurden durch Uniformen und viktorianische Gewänder ersetzt, ihre langen Haare wurden geschnitten. Verängstigt hörten sie die "lauten, schrillen Stimmen", die ihnen befahlen, zu gehorchen, ihre Stammessprache nicht zu sprechen und sich an die weiße Gesellschaft anzupassen. Dazu kam, daß ihre Völker ihnen als "böse", "heidnisch" und "wild" geschildert wurden, so daß die meisten jedes Selbstbewußtsein verloren und sich gegen ihre Identität wandten oder sie zumindest anzweifelten. Typisch sind die Schulerinnerungen von Sun Elk aus dem Taos Pueblo:
Wir trugen die Kleidung der Weißen, aßen das Essen der Weißen, gingen zur Kirche der Weißen und sprachen die Sprache der Weißen. So begannen wir nach einiger Zeit ebenfalls zu sagen, daß die Indianer böse waren. Wir lachten über unser eigenes Volk, über seine Decken, Kochtöpfe, heiligen Gesellschaften und Tänze.
Sioux-Schüler vor der Schuleinweisung ... |
... und 6 Monate danach. |
---|
Den Kindern wurde nichts von der Geschichte und den Leistungen ihrer Vorfahren oder von ihren patriotischen Anführern vermittelt. Mertha Bercier, eine Chippewa-Schülerin, erzählte von dem emotionalen Aufruhr, der Einsamkeit und der Endfremdung von ihrem Stamm:
Wollte ich eine Indianerin sein? Nachdem ich Bilder von Indianern auf dem Kriegspfad gesehen hatte - wie sie kämpften, Frauen und Kinder skalpierten, und oh! diese häßlichen Gesichter. Nein! Indianer sind böse Menschen - ich bin froh, keine Indianerin zu sein, dachte ich. Jeder Tag ging in einen anderen endlosen Tag über, jeden Abend fielen Tränen. "Morgen", sagte meine Schwester. Morgen kam nie. Und so vergingen die Tage, und langsam gewöhnte ich mich an die Veränderungen. Die lebhaften Bilder von meinen Eltern, Schwestern und Brüdern verschwanden. Was blieb, war eine verschwommene Vision dessen, was einmal war. Verzweifelt klammerte ich mich an die verblassende Vergangenheit, die langsam in mir ausgelöscht wurde.Einige Jugendliche wehrten sich. Nach den im folgenden Zitat geschilderten Ereignissen griff Lone Wolf, ein Blackfoot aus den Nördlichen Prärien, seinen Lehrer mit den Fäusten an. Er wurde an eine andere Schule versetzt und dort inhaftiert, als er einen Mitschüler gegen einen autoritären Lehrer verteidigte.
Die Tage waren schlimm genug, aber die Nächte waren noch viel schlimmer. Abends begann die wirkliche Einsamkeit. Viele Jungen liefen weg, aber die meisten wurden von der Polizei eingefangen und zurückgebracht. Uns wurde befohlen, nie Indianisch zu sprechen, und wenn wir erwischt wurden, wurden wir mit einem Ledergürtel geschlagen.Die Internatsschulen, die das Ziel hatten, die unterschiedlichen Nationen in den großen "Schmelztiegel" zu werfen, bewirkten meist, daß die Indianer weder Selbstbewußtsein noch eine Identität entwickelten. Tausende von indianischen Jugendlichen fühlten sich nach der Schulzeit von der weißen Gesellschaft ausgeschlossen, waren aber auch in ihrer indianischen Kultur auf der Reservation nicht mehr heimisch. Dort hatten sich die Menschen kaum verändert. Die meisten hielten noch an den alten Traditionen fest, und die zurückkehrenden Schulabgänger mußten feststellen, daß dort kein Platz für sie war. Wehmütig erinnert sich Sun Elk, der Schüler aus dem Taos Pueblo, an das tragische Ende seiner Schulzeit:
Ich weiß noch, wie wir eines Abends alle in einem Zimmer in einer Reihe dastanden und einer der Jungen seinem Nachbarn etwas auf Indianisch sagte. Der Mann, der auf uns aufpaßte, packte ihn am Kragen und schleuderte ihn quer durch das Zimmer. Später stellten wir fest, daß sein Schlüsselbein gebrochen war.
Der Vater des Jungen, ein alter Krieger, kam zur Schule. Er sagte dem Lehrer, daß bei sein Volk Kinder nie mit Schlägen bestraft wurden. Das sei nicht die richtige Art, Kindern etwas beizubringen; freundliche Worte und ein gutes Vorbild seien viel besser. Bevor der Lehrer ihn aufhalten konnte, nahm der alte Krieger seinen Sohn und ging. Dann floh die Familie nach Kanada und kam nie zurück.
An einem warmen Sommerabend stieg ich am Bahnhof von Taos aus dem Zug. Ich bat den ersten Indianer, der mir begegnete, zum Pueblo zu laufen und meiner Familie zu sagen, daß ich zu Hause bin. Der Indianer konnte kein Englisch, und ich hatte meine Pueblo-Sprache völlig vergessen. Am nächsten Morgen kamen der Governor des Pueblos und die beiden Kriegshäuptlinge in das Haus meines Vaters. Sie sagten kein Wort zu mir; sie sahen mich nicht einmal an. Die Häuptlinge sagten zu meinem Vater: "Dein Sohn, der sich Rafael nennt, hat bei den weißen Männern gelebt. Er ist weit fort gewesen. Er hat nicht die Dinge gelern, die ein indianischer Junge lernen sollte. Er hat keine Haare. Er kann nicht einmal unsere Sprache sprechen.
Er gehört nicht zu uns."