Bevor die Weissen nach Amerika kamen, lebten dort ausschließlich Indianer. Das weiß jedes Kind. Wann und wie aber hatten die ersten Menschen den Kontinent besiedelt? Das wissen nicht einmal die Forscher - trotz aufschlussreicher Funde und plausibler Theorien.
Als Christoph Kolumbus 1492 die ersten Eingeborenen auf der Insel
Hispaniola sah, konnte er fast nicht glauben, dasß diese fremdartig aussehenden Wesen Menschen waren. Erst Papst Julius II. erklärte die Indianer der Neuen Welt zwanzig Jahre später für Nachkommen Adams und Evas.
Doch damit war für die Europäer ein Problem entstanden: wie kamen diese Menschen in die Neue Welt, wenn sie als Nachkommen des ersten Menschenpaares eigentlich aus der Alten stammten? Verschiedene Lösungsvorschläge wurden gemacht: sie konnten Verirrte sein, die sich einst am Bau des bilblischen Turms zu Babel beteiligt hatten; sie waren Israeliten, Ägypter, Karthager, Trojaner, Griechen, Etrusker, Chinesen - oder einfach nur Seeleute, die weit vom Kurs abgekommen waren.
Im fortschrittlichen 19. Jahrhundert begegnete der berühmte Naturforscher Charles Darwin an der Südspitze Argentiniens den Feuerländern. Und reagierte mit beinahe der gleichen Voreingenommenheit wie einst Kolumbus: die Indianer beherrschten nach seiner Ansicht nur unvollkommen eine menschliche Sprache, und jede Religion sei ihnen fremd.
Der italienische Paläontologe Florentino Amaghino meinte sogar, die Ureinwohner Amerikas seien durch eine eigene Schöpfung unabhängig von den Menschen der Alten Welt entstanden. Andere Forscher vermuteten, die Indianer könnten Überlebende des versunkenen Kontinents Atlantis sein.
Erst in unserem Jahrhundert haben Wissenschaftler Methoden entwickelt, die einen realistischeren Blick auf die Geschichte der Indianer erlauben. Dennoch bleibt manches im Unklaren. Als Kolumbus 1492 in der Neuen Welt den Anker auswarf, lebten schätzungsweise 12 Millionen Menschen in Nord- und Südamerika, vielleicht sogar erheblich mehr. Sie redeten etwa 2200 unterschiedliche Sprachen, allein in Nordamerika mehr als 500, die Ureinwohner lebten in ebenso vielen Stämmen. Wie sollte man alle Verbindungen und Unterschiede erkennen? Denn gerade das versuchten die Forscher.
Die gängigste Theorie lautet seit einigen Jahrzehnten: Die Vorfahren der Indianer wanderten vor rund 12.000 bis 15.000 Jahren aus Asien in das heutige Alaska ein. Dies sei möglich gewesen, weil damals Riesengletscher große Teile von Kanada und die nördlichen Vereinigten Staaten bedeckten. Weil es auf dem Land so viel Eis gab, lag der Meeresspiegel im Vergleich zu heute etwa 100 Meter tiefer. Die Beringstrasse, der Wasserweg zwischen Sibirien und Alaska, war Festland geworden. Tiere und ihre Jäger wanderten von Asien aus nach Osten und gerieten so auf den anderen Kontinent. Dort gab es viel zu essen und viel Platz in einem menschenleeren Land. Später zogen die Einwanderer allmählich bis zur Südspitze von Südamerika.
Die Bestätigung für dieses Szenarium lieferte 1932 ein Fund unweit der Stadt Clovis im Bundesstaat New Mexico. Dort entdeckten Archäologen bei einer altertümlichen Feuerstelle mehrere Speerspitzen aus Feuerstein - alle von einer beeindruckenden Ähnlichkeit, herzförmig und gerillt, als kämen sie aus der gleichen Manufaktur. In den folgenden Jahren fanden sie immer wieder solche Spitzen, in unterschiedlichsten Gegenden Nordamerikas. Mit Hilfe der C-14-Datierung, einer Methode der Altersbestimmung, stellte sich heraus, die ersten Menschen dieser "Clovis-Kultur" lebten vor rund 11.000 Jahren.
Sie waren Jäger und verfolgten Mammuts, Langhornbüffel und die später ausgerotteten amerikanischen Pferde - Archäologen fanden Speerspitzen zwischen den Rippen erlegter Tiere. Vor rund 9.000 Jahren starb das Wild aus, und die Clovis-Kultur ging zugrunde. Den Menschen fehlte die Nahrung.
Soweit die gängigste Theorie. Vieles Spricht dafür, daß sie stimmt. Zumal sie auch durch biologische Erkenntnisse unterstützt wird - die ersten Amerikaner besaßen auffallende Gemeinsamkeiten mit den Menschen aus Asien. Zum Beispiel einen stämmigen Körperbau mit relativ kurzen Beinen, langen Armen, kleinen Füßen und Händen; hervortretende Wangenknochen; eine ausgeprägte Nase; einen breiten Mund; glatte und dichte schwarze Haare. Und schließlich den sogenannten Mongolenfleck - eine vorübergehende Pigmentansammlung, die bei Mongolen, Japanern und vielen Indianern in der Kindheit am Rücken zu sehen ist. Fast alle Indianer besitzen die Blutgruppe Null und A; die Gruppe B kommt bei ihnen kaum vor. Das hat zu der weiteren Annahme geführt, daß die Ureinwohner Amerikas aus einem relativ eng umgrenzten Gebiet Asiens stammten.
Dennoch entstand aus dieser Einheit eine Vielfalt an Kulturen und Sprachen. Wissenschaftler haben ausgerechnet, daß sich der Grundwortschatz einer Sprache alle tausend Jahre um durchschnittlich 19 Prozent verändert. Wenn also eine Sprachgemeinschaft getrennte Wege gegangen ist, dann sind nach 5.00o Jahren nur noch ein paar Gemeinsamkeiten übrig geblieben.
Wo aber solche sprachlichen Übereinstimmungen heute noch bestehen, kann man die einstige Marschroute der Stämme nachvollziehen. Zum Beispiel bei den Azteken. Ihre Sprache ist mit denen der Shoshonen, Ute und Paiute verwandt. Angehörige dieser Indianerstämme zogen einst aus dem Norden Amerikas nach Süden. In Mexico stießen sie auf die Hochkultur der Tolteken, mit denen sie sich vermischten. Ihre Sprache blieb zwar noch mit der ihrer Verwandten im Norden verknüpft, aber ihre Kultur war eine andere geworden.
Nach neueren Erkenntnissen nehmen die Sprachforscher an, daß die Indianer den amerikanischen Kontinent nicht in einem großen Zug erreichten. Mindestens drei Einwanderungswellen lassen sich nachweisen:
- die erste der Clovis-Kultur, aus der fast sämtliche nachfolgenden Indianersprachen hervorgingen.
- die zweite der Athapasken-Indianer. Sie lebten (und leben) im nördlichen Kanada. Ein Zweig dieser Familie wanderte nach Süden weiter. Das waren die Vorfahren der Navajos und der Apachen.
- die dritte einwanderungswelle der Eskimos, die sich im hohen Norden von Sibirien bis Grönland ausbreiteten. Bis heute ähneln sich die Sprachen ihrer Stämme erheblich.
Soweit scheint die Theorie vom Ursprung der Indianer zu stimmen. Doch es gibt neuere Tatsachen , die sie ins Wanken bringt. Zum Beispiel Funde, die französische Forscher in Brasilien machten. In dem Ort Pedra Furada (Bundesstaat Piaui) entdeckten sie eine 17.000 Jahre alte Höhlenmalerei. Und in der Erde fanden sie Kulturgegenstände, die vielleicht sogar 33.000 Jhare alt sind.
Auch in Monte Verde in Chile stießen Archäologen auf Funde, die offenbar mehrere tausend Jahre älter sind als die Clovis-Kultur. Forscher wie der Amerikaner Tom Dillehay glauben sogar, Fragmente von uralten Behausungen oder Siedlungen gefunden zu haben.
Sind die Vorfahren der Indianer also doch nicht von Asien über Nordamerika nach Südamerika gezogen? Haben wir es vielleicht mit zwei ganz verschiedenen Kulturen zu tun, einer nördlichen und einer südlichen? Aufschluß könnte ein Blick auf die Religionen der Indianer in beiden Teilen Amerikas geben: Der Glaube im Norden ähnelt dem uralten Jägerkult in Nordasien, vor allem dem in Sibirien. In beiden Hemisphären spielt der Schamane, der Medizinmann, eine große Rolle. Er ist das Verbindungsglied zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Eine weitere Gemeinsamkeit der frühen Nordamerikaner und der Nordasiaten ist die Verehrung des Bären und des Adlers. Der sogenannte Donnervogel kursiert in den Mythen der Völker von Lappland bis Kanada.
Ganz anders dagegen der Glaube der südamerikanischen Indianer aus. Im Mittelpunkt ihrer Ackerbau-Religionen standen verschiedene Fruchtbarkeitskulte, meist auch ein als Hohepriester verehrter König.
Eine Spekulation lautet deshalb: Die Südamerikaner seien gar nicht mit den Nordamerikanern verwandt. Vielmehr erreichten sie den südlichen Kontinent per Schiff von Polynesien aus, wo ähnliche religiöse Vorstellungen herrschten. Wegen der Eiszeit lag der Meeresspiegel einst so niedrig, daß die Südseemenschen mit einfachen Booten von Insel zu Insel "hüpfen" konnten.
Weitere Theorien werden aufgestellt, die sich ebensowenig beweisen lassen. Unumstritten ist nur: Es gab dieClovis-Kultur, deren Mitglieder von der Jagd auf Großwild lebten - und das Ende dieser Zivilisation bedeutete den Beginn nachfolgender Indianerkulturen. Die bekanntesten: Folsom, Plano, Adena, Hopewell und Cochise. Sie gelten als Vorfahren der verschiedenen historischen Stämme und hatten alle eines gemeinsam: da die Wildtiere der Clovis-Kultur ausgestorben waren, mußten sie zum Überleben eine neue Strategie entwickeln.
Die Cochise zum Beispiel befanden sich nach dem Verschwinden des Großwilds im Südwestem Amerikas. Die Wüste, die sie bewohnten, wurde zunehmend ungünstig für die Jagd. Deshalb wendeten sie sich vor 7.000 oder 8.000 Jahren der Landwirtschaft zu. Vor allem Mais und Kürbisse bauten sie an. Nebenbei jagten sie Rehe, Antilopen und Hasen.
Was den Untergang der Cochise verursachte, ist nicht mher zu rekonstruieren. Sie hatten aber direkte Nachkommen, die Mogollon-Indianer. Sie jagten mit Pfeil und Bogen, lebten in Hütten oder unterirdischen Behausungen, und sie bauten riesige Bewässerungskanäle (im heutigen US-Bundesstaat Arizona). Doch auch diese Kultur verlor ihre Eigenständigkeit. Um 800 v. Chr. vermischte sie sich so sehr mit anderen Stämmen, z.B. mexikanischer Herkunft, daß sie nach Ansicht der Forscher untergegangen ist. Ihre Menschen lebten in anderen Indianerstämmen weiter.
Je mehr Zeit verging, desto unterschiedlicher enhtwickelten sich die Indianer Nordamerikas. Die einen wurden zu fischenden Küstenbewohnern, die anderen bauten in der Prärie eßbare Pflanzen an, und die Bewohner der Wälder gingen auf die Jagd. Indianer lebten in Tipis oder in Wigwams, in Pueblos oder Langhäusern.
Übersichtskarte der Stämme und Sprachfamilien | |
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Es ist schwer zu beurteilen, wie sich Amerika entwickelt hätte, wenn es 1492 von Kolumbus nicht wiederentdeckt worden wäre. Die Mayas hatten damals schon eine Schriftsprache, und die Azteken waren auf dem besten Weg dahin. Dennoch war Amerika die arme Kusine Europas, das zu dieser Zeit schon den Buchdruck kannte.
Amerika entwickelte sich langsamer als die Alte Welt. Gründe dafür gab es viele. Es mangelte an Großwild (Ausnahme: Bison), an domestizierbaren Herdentieren (Ausnahme: Lamas), an Getreidesorten (Ausnahme: Mais). Zwar verfügten auch die Uramerikaner über Erfindungsgeist und schufen trotz aller Widrigkeiten eine Hochkultur. Doch sie entstand relativ spät. Und nie erreichte sie das Format einer griechischen oder chinesischen Kultur.
Genaugenommen waren die Indianer Amerikas aber Verwandte, die man nur aus den Augen verloren hatte. Das Abschiednehmen lag viele tausend Jahre zurück. So lange, daß Kolumbus seine Vettern und Kusinen gar nicht mehr erkannte.